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Gegenwartskino im Fokus

2024

PIA MARAIS

 

 

 

 

 

 

 

FILMOGRAFIE (AUSWAHL)

 

LOOP (KURZFILM) 1996
DERANGED (KURZFILM) 1998
TRICKY PEOPLE (KURZFILM) 1999
17 (KURZFILM) 2003
DIE UNERZOGENEN 2007
IM ALTER VON ELLEN 2010
LAYLA FOURIE 2013
SO AUF ERDEN (FERNSEHFILM) 2017
TRANSAMAZONIA 2024

Sie sind das Duo der guten Hoffnung: Rebecca, die junge Wunderheilerin, die Lahme wieder zum Laufen bringen soll – und Lawrence, ihr Vater und Manager, der die Gläubigen und das Geld zählt. Sie ist die Stille, er der Macher. Mitten im Amazonas-Urwald haben die beiden ihren evangelikalen Dienst eingerichtet, verkünden vor indigenen Communitys Gottes Wort und liefern noch eine magische Show dazu. Quer über das Gesicht von Rebecca verläuft eine Narbe. Sie stammt von einem Flugzeugabsturz, den sie als kleines Kind – anders als ihre Mutter – überlebt hat. Sie ist das Wundmal, mit dem ihre schamanische Aura noch ein sichtbares Zeichen erhält.

 

Viele Monate Recherche hat Pia Marais in ihren neuen Film Transamazonia investiert. Sie begleitete einen Journalisten, der sich mit dem Konflikt zwischen einem indigenen Stamm und einer benachbarten Holzfällerstadt beschäftigte. Marais übertrug dieses Narrativ als Western-Element in den Film. Es geht um Tradition und Territorium, um Geschäft und Gier, und in dieser aufgeheizten Gemengelage mischen die Evangelikalen mit, in deren missionarischem Eifer eine Menge Materialismus steckt.

 

Es ist ein fiebriges Setting, das die Regisseurin in Transamazonia aufbaut. Der Urwald, die tropische Schwüle, schweißnasse Körper, die traumähnliche, transzendentale Entrücktheit, wenn Rebecca als Medium auftritt. Der Film zeigt aber auch die Verrohung einer Gesellschaft, die außerhalb der direkten Kontrolle einer Ordnungsmacht ist. Die Motorsägen zerschneiden das Ökosystem, in den Barackensiedlungen und auf dem Schotter- Highway durch die Wildnis gilt das Recht des Stärkeren. Anders als in Systemsprenger – die Rolle, die sie 2019 international bekannt gemacht hat – agiert Helena Zengel als Rebecca kontrolliert, fast abwesend. Im Verlauf der Handlung regt sich in der Teenagerin aber mehr und mehr Widerstand. Sie will nicht mehr das Gefäß Gottes und lukrative Zirkuspferd ihres Vaters sein. Sie will ihre eigene Identität entwickeln. Dieses Coming-of-Age-Motiv verbindet Pia Marais‘ neuesten Film mit ihrem ersten. In Die Unerzogenen (2009) leidet eine 14-jahrige unter ihren heimatlos umherziehenden Hippie-Eltern, die Drogen nehmen und freie Liebe zelebrieren und ihrer Tochter keine Beschränkung der Freiheit anbieten. Die vom Kind ersehnte Bürgerlichkeit wird zu einem Akt der Rebellion – eine verkehrte Welt, wie sie die Regisseurin selbst erlebt hat.

 

Auch Marais‘ Eltern waren Hippies, die Mutter Schwedin, der Vater ein sudafrikanischer Schauspieler. 

Das Haus war immer voll, ständig Partys und Plena, selten war die Familie für sich. Marais wuchs in Sudafrika, Schweden und Spanien auf, ging auf die Waldorfschule und studierte zunächst Bildhauerei und Fotografie an der Chelsea School of Art in London, der Rietveld Akademie in Amsterdam und der Kunstakademie Düsseldorf. Später Film an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin.

 

Berliner Schule war die heute 53-jahrige nie. Ihre Filme sind dynamisch, verspielt und verwenden Versatzstucke unterschiedlicher Genres. Nicht alles muss erklärt, nicht alles aufgelöst werden. In Im Alter von Ellen, ihrem zweiten Film, der 2010 bei FILMFEST HAMBURG seine Deutschlandpremiere feierte, folgt sie einer Stewardess in der Lebenskrise und lasst sich mit ihr aus der Bahn werfen. Es ist eine mäandernde Reise voller skurriler Plot Points, aber ohne systematischen Plot. In Layla Fourie, ihrer ersten englischsprachigen Produktion, kehrte sie 2013 nach Sudafrika zurück. Das Land hat sich seit ihrer Kindheit verändert. Aus Hoffnung ist Misstrauen geworden, der Sicherheitssektor boomt, überall Überwachungskameras und vergitterte Fenster. Hauptfigur ist eine alleinerziehende Mutter, die eine falsche Entscheidung getroffen hat. Ihre Angst und Paranoia ist die eines ganzen Landes. Wie in Transamazonia rollt Pia Marais in Layla Fourie ihr vielleicht größtes Talent aus: eine Atmosphäre zu schaffen, die sich wie tropischer Morgennebel über den Kinosaal legt und die Geschichte sinnlich greifbar macht.

MARK STÖHR

 

Das Filmgespräch mit Pia Marais findet im Anschluss an die Vorstellung von Die Unterzogenen am 28.09.  im Metropolis statt.

 

27.09. 21:00 Abaton

TRANSAMAZONIA

 

28.09. 15:00 Metropolis

DIE UNERZOGENEN

 

29.09. 12:20 CinemaxX 2

LAYLA FOURIE

 

04.10. 20:45 Abaton

TRANSAMAZONIA

2024

JOSHUA OPPENHEIMER

 

 

 

 

 

 

 

FILMOGRAFIE (AUSWAHL)

 

THESE PLACES WE’VE LEARNED TO CALL HOME
(KURZFILM) 1997
THE ENTIRE HISTORY OF THE LOUISIANA
PURCHASE (MITTELLANGER FILM) 1998
THE GLOBALISATION TAPES (DOKUMENTARFILM)
2003
THE ACT OF KILLING (DOKUMENTARFILM) 2012
THE LOOK OF SILENCE (DOKUMENTARFILM) 2014
THE END 2024

 

Die Apokalypse steckt schon in seinem Namen. Oder zumindest das Interesse dafür. Joshua Oppenheimer wuchs in New Mexico auf, mit Blick auf Los Alamos, Sitz des US-amerikanischen Atomforschungsprojekts. Immer wieder wurde er mit Robert Oppenheimer in Verbindung gebracht, dem ≫Vater≪ der Atombombe, doch es gibt keinerlei familiäre Bezuge.

 

In The End, seinem neuesten und ersten fiktionalen Film, entwirft der US-amerikanische Regisseur ein albtraumhaftes Szenario: Eine wohlhabende Familie lebt in einem palastartigen Bunker. Die Welt draußen ist unbewohnbar geworden, drinnen kümmert sich die Mutter – gespielt von Tilda Swinton – um den Erhalt der teuren Gemälde. Der Vater war ein einflussreicher Energiemagnat. Der 20-jahrige Sohn kennt die Außenwelt nur vom Hörensagen. Die Drei halten sich für die Auserwählten einer modernen Arche Noah und ihre goldene Gruft für die Krönung der Zivilisation. Das besingen sie in beklemmenden, vor Zuversicht halluzinierenden Liedern, die alles ausblenden. Vor allem den Weltuntergang und ihren maßgeblichen Beitrag dazu.

 

Joshua Oppenheimer stellt sein Musical in die Tradition der US-Musicals der 1950er-Jahre. Diesen attestiert er einen ≫radikalen, grundlosen Optimismus≪. Sie waren die Feel-Good-Melodien einer Gesellschaft, die die Augen davor verschloss, dass ihre Prosperität unmittelbar mit dem Prekariat und der kapitalistischen Kolonisation des Globalen Südens verknüpft war.

≫Für mich war es ein Schock, zu verstehen, dass die amerikanische Hegemonie auf Blutvergießen aufgebaut war≪, sagte der 1972 in Austin geborene Regisseur jüngst in einem Interview. Diese frühe Erkenntnis – seine Mutter ist Anwältin für Arbeitsrecht und Gewerkschaftsaktivistin – ist bis heute ein zentrales Motiv seiner Arbeit. Dazu kommt ein Familientrauma. Mehrere Mitglieder der Oppenheimer-Familie, deren Wurzeln teilweise in Deutschland und Osterreich liegen, wurden vom NS-Regime ermordet. Von klein auf wuchs Oppenheimer mit dem Wissen um den Holocaust auf. Er war ihm noch vor Cinderella ein Begriff, sagte er einmal.

 

Anfang der 2000er-Jahre reiste er erstmals nach Indonesien für ein Dokumentarfilmprojekt. In The Globalisation Tapes (2003) untersuchte er die Situation von Arbeiter*innen auf einer Palmolplantage. Kaum jemand dort wurde alter als 40 wegen der hochgiftigen Pestizide. Als die Gewerkschaft Schutzanzuge forderte, schickte der belgische Plantagenbetreiber postwendend Paramilitärs. Die Arbeiter*innen ließen ihre Forderungen sofort fallen. Ihre Furcht vor den Schlagertrupps war grösser als die vor dem todbringenden Gift. 

Rasch stieß Joshua Oppenheimer auf die tief liegenden Wurzeln dieser Furcht – und machte seinen nächsten Film darüber: The Act of Killing (2013), sein vielfach ausgezeichnetes Opus magnum.

 

The Act of Killing erzählt davon, was mit einer Gesellschaft passiert, wenn Massenmörder straffrei bleiben. Hintergrund sind die anti-kommunistischen Pogrome durch paramilitärische Banden von 1965 bis 1966, bei der über eine Million Indonesier*innen umgebracht wurden. Die Täter wurden nie verfolgt und genossen auch Jahrzehnte danach noch den Schutz und sogar die Anerkennung durch die Regierenden. In seinem Film richtet Oppenheimer den Blick nicht hinter den Vorhang einer grausamen Vergangenheit, sondern auf den Vorhang selbst. In verstörenden Reenactments lässt er die Mörder von damals das Morden nachstellen – und sie fuhren sich vor der Kamera wie Filmstars auf und ahmen ihre Hollywood-Vorbilder von Al Pacino zu John Wayne nach. Für Oppenheimer sind ihre prahlerischen Performances ein Ausdruck von Schuld. In Wirklichkeit wussten sie, wie jämmerlich sie sind. In einer Szene sagt einer der Täter: ≫Kriegsverbrechen werden vom Sieger definiert≪. Und er ist besorgt, dass der Film ≫die Geschichte umkehren wird≪.

Ein Jahr später veröffentlichte Joshua Oppenheimer den Nachfolgefilm The Look of Silence. Nach den Lügen der Täter steht jetzt die Angst der Überlebenden im Mittelpunkt. Und ihr Schweigen, das erstmals gebrochen wird – durch einen Optiker, der die Mörder seines Bruders mit ihrer Tat konfrontiert. Ein bis dahin unvorstellbarer Tabubruch. Ursprünglich plante Joshua Oppenheimer einen dritten Teil. Doch sein Leben wäre in Indonesien nicht mehr sicher.

 

Das Werkgespräch mit Joshua Oppenheimer findet am 30.09. um 21:00 vor der Vorführung von The Look of Silence im Metropolis statt.

 

29.09. 19:45 Passage

THE END

 

30.09. 21:00 Metropolis

THE LOOK OF SILENCE

 

04.10. 21:45 CinemaxX 1

THE END

 

05.10. 21:30 Studio-Kino

THE ACT OF KILLING

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